LESEPROBE

"D U R S T"



VORWORT

Wir haben uns vor einem Jahr im Süden Österreichs ein Häuschen gekauft und fühlen uns sehr wohl hier.

Nachdem wir über 5 Jahre neben einer tyrannischen und geisteskranken Nachbarin ausharren mussten, die uns und unsere Kinder nach und nach ernsthaft in große Gefahr gebracht hatte, waren wir unglaublich erleichtert, nun endlich in Frieden leben zu können.

Die Nachwirkungen ihrer permanenten Quälereien spüren wir immer noch in allen Knochen. Dieses Gefühl zu genießen, endlich in Sicherheit zu sein, wieder Vertrauen zu fassen, ist schwieriger als wir es uns gedacht hatten. Eine gewisse Unruhe wird uns noch eine Zeitlang begleiten.

Ich erinnere mich, wie schwierig es war, damals, im Prozess mit der Nachbarin, die Hilfe der restlichen Anrainer zu bekommen. Jeder glaubte uns zwar, doch keiner wollte sich mit ihr anlegen. Jeder hatte Angst. Und darum wollten sie neutral bleiben.

Wir sind die Schweiz! sagte uns ein durchaus nettes Nachbarpärchen arglos ins Gesicht, nachdem wir ihnen erzählt hatten, dass die gute Frau nebenan unseren Kindern zur Kindergeburtstagsfeier Pornofilme vorgespielt hatte, sie uns Tag und Nacht observierte und unsere sechsjährige Tochter beinahe mit dem Auto überfahren hatte. Vier unserer Katzen verschwanden unter mysteriösen Umständen, zwei davon kamen schwer verletzt zu uns zurück und mussten eingeschläfert werden.

Unser junger Schutzhund wurde während unserer Abwesenheit systematisch mit einer Hundepfeife dazu abgerichtet, über unseren Gartenzaun zu springen und weit wegzulaufen. Die Täterin selbst war es dann, die jedes Mal prompt die Polizei herbeirief, um uns anzuzeigen. Nachdem wir unseren Zaun erhöhten, wurde er regelmäßig durchgeschnitten, jenseits des Zauns lagen Hundekekse, um das arme Tier an die richtige Stelle zu locken. Der Hund war bereits auf das Weglaufen konditioniert worden und türmte sofort.

Das alles und noch viel mehr, weil sie uns hasste, weil wir eine Familie waren und sie eine verbitterte alleinstehende, kinderlose Frau, die uns mit allen Mitteln vertreiben wollte.

Wir fühlten uns so ausgeliefert und hilflos.

Wir wollten stark bleiben. Immer wieder beschwichtigten wir uns gegenseitig, konnten uns nicht vorstellen, dass jemand uns derart Schaden zufügen wollte. Wir glaubten an ein Gerechtigkeitssystem, suchten Hilfe bei Behörden und Polizei. Die Unterstützung war dürftig, da Beweise für ihre Untaten fehlten. Nicht zuletzt waren wir auch deswegen machtlos, weil unsere Widersacherin sich in ihrer Freizeit geschickt dort aufhielt, wo sie private Kontakte zu Polizisten und Beamten knüpfen konnte.

Objektiv und sachlich bearbeitet konnte unser Fall also gar nicht mehr werden.

Was sollten wir also tun? 

Nach vielen Jahren der Tränen, des Ärgers, der Angst und Verzweiflung aller Familienmitglieder, nachdem selbst unsere Verwandten und Freunde erkannten, dass es sinnlos und enervierend war, weiter zu kämpfen, entschieden wir, uns von dem schönen Haus zu trennen und möglichst weit wegzuziehen.

So kamen wir also hierher. Und wir hatten Glück, denn wir konnten das neue Häuschen zu einem guten Preis erstehen. So blieb sogar noch Geld für ein Familienauto übrig.

Durch die Auswirkungen auf unser Seelenleben durch die Terroraktionen dieser feindseligen Frau konnten wir auf besondere Weise nachvollziehen, wie es Menschen gehen muss, die ihr geliebtes Zuhause verlassen, um Krieg und Todesangst zu entfliehen.

Als im Sommer 2015 diese vielen Fremden aus Kriegsgebieten in unser Land kamen, empfanden wir inniges Mitgefühl für diese Schicksale.

Wir wussten, wie schwer es war, seinem Zuhause adieu zu sagen und waren es auch nur einige Kilometer. Für uns war klar, dass diese Menschen nicht hier waren, um uns auszubeuten.

Auch in unserem neuen Wohnort gab es ein Flüchtlingsquartier. Bereits vor unserem Hauskauf entdeckten wir im Zuge unserer Recherchen über unsere künftige Heimat, Zeitungsartikel im Internet, wo darüber berichtet wurde.

Es sollte jedoch fast ein Jahr dauern, bis wir diese jungen Männer kennenlernten.

 

Es war im Herbst 2016 gewesen.

Nach einer Einkaufstour mit unserem neu angeschafften Van waren wir mit unseren drei kleineren Kindern auf dem Nachhauseweg. Ungefähr einen Kilometer von unserem Haus entfernt, erblickten wir ihn. Einen jungen, nicht allzu großen dunkelhaarigen Mann mit einem Rucksack.

Mein erster Gedanke war Das muss einer von den Flüchtlingen in unserem Dorf sein!
Und ich hatte Recht.

Sogleich vermeldete mein achtjähriger Sohn laut: Schaut, da geht Khalid!

Meine Kinder hatten im Sommer bereits die Möglichkeit gehabt, ihn und seine Mitbewohner kennenzulernen. Gelegentlich spielten sie gemeinsam Fußball auf der großen Wiese vor der Asylunterkunft und einmal waren sie sogar zu Kaffee und Kakao eingeladen worden.

Ich war neugierig geworden und schlug meinem Mann vor, anzuhalten und den unbekannten Afghanen mitzunehmen. Es war kalt und regnerisch gewesen an diesem Tag. Jeden Moment konnte ein Wolkenbruch niedergehen.

Es war anzunehmen, dass kein anderer ihn sonst abholen würde. Immerhin wusste ich, dass die Asylanten, wie sie immer mit einem mehr oder weniger lauten Unterton des Missfallens von den Dorfbewohnern genannt wurden, bei den meisten hier nicht gerade willkommen waren.

 

Was ich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass es durchaus einige beherzte Menschen in der näheren Umgebung gab, die sich um das Wohl dieser Gestrandeten annahmen. Völlig unentgeltlich und aus Nächstenliebe. Ehrenamtlich.

Von Kritikern als Gutmenschen bezeichnet.

Mir war bereits zu Ohren gekommen, wie die ersten Reaktionen der Dorfbewohner ausfielen, als die Flüchtlinge angekündigt wurden. Von Wir wollen sie hier nicht haben!, Diese testosterongesteuerten Wilden fallen auch noch über unsere Kinder und Frauen her! bis zu dem Vorsatz: Wir zünden diese Bude einfach an, dann sind sie auch gleich wieder weg!

Die Grausamkeit dieser Gegner, von denen einige im Laufe dieses ersten Jahres zu unseren Freunden geworden waren, entsetzte mich zutiefst.

Wer konnte denn schon wirklich wissen, was diese Menschen alles hinter sich haben. Immerhin waren sie doch Flüchtlinge. Doch welche Art von Flüchtlingen? In den Medien wird unterschieden zwischen Kriegsflüchtlingen oder Wirtschaftsflüchtlingen. Wer ist jetzt was? Dieser Unterschied trägt angeblich maßgeblich zu der Spannung in unserem Land bei. Und Spannungen gibt es zahlreiche. Im vergangenen Jahr, gleich nach der großen Flüchtlingswelle 2015 begann es ordentlich zu kriseln unter uns Österreichern, und das, wo wir doch an sich ein sozial eingestelltes Völkchen sind. Nun musste ich mich jedoch häufig sehr wundern, was in der letzten Zeit, selbst von Freunden und bislang als hilfsbereit geltenden Personen an abwertenden Aussagen herausgesprudelt kam. Es war enttäuschend, zu erleben, wie zynisch und gefühllos viele meiner nächsten Mitmenschen auf den Strom der Hilfesuchenden reagierte.

Andererseits:
Es soll ja immer überall auch ein Körnchen Wahrheit dahinterstecken. Vielleicht stimmte es ja, was die Medien verbreiteten, dass DIE nur deswegen hierherkommen, weil sie es sich bei uns gemütlich machen möchten. Sich hier ansiedeln, unser vorwiegend katholisches Land islamisieren, es erobern, die Frauen unterdrücken und vergewaltigen, um sie zu versklaven, unsere Arbeitsplätze wegnehmen. Kollektiver
sanfter Terrorismus also.

So skeptisch ich selbst jedem neuen Ereignis oder Fremden gegenüberstehe, das wollte ich einfach nicht glauben. Und was, wenn diese fünf Fremden aus einem krisengeschüttelten Land tatsächlich ein schweres Schicksal zu tragen hatten? Ein Schicksal, von dem die meisten von uns in diesem gelobten Land überhaupt keine Ahnung hatten? Weil wir das Glück haben, ohne Krieg aufgewachsen zu sein...

Ich wollte mich persönlich davon überzeugen, mir selbst ein Bild machen. Die Energie dieser Menschen fühlen. Mit meiner Neugier bringe ich zwar selbst moderne Menschen aus unseren Gefilden in Verlegenheit. Antworten bekomme ich jedoch in der Regel immer. Jeder spricht im Grunde doch gerne über sich selbst. Wie wäre das mit diesen Leuten? Würden sie erzählen wollen? Ich war wirklich neugierig.

Ja, bleib stehen! Ich möchte Khalid jetzt auch einmal kennenlernen!

 

Mein Mann hielt also an. Freundlich wurden wir begrüßt. Was ich sah, erstaunte mich sehr. Dieser junge Ausländer schien sehr gute Umgangsformen zu haben. Er strahlte übers ganze Gesicht, so sehr freute er sich, dass wir anhielten und ihn ansprachen. Er war sehr höflich und erklärte, er wollte keine Umstände machen, es wäre ja nicht mehr so weit nach Hause. Doch mein Mann bestand darauf, dass er einstieg.

Es waren nicht einmal fünf Minuten, doch es genügte mir fürs Erste, um zu bemerken, dass dieser junge Mann sehr herzlich, gepflegt, überaus respektvoll und dankbar war. Jedenfalls war er mir auf Anhieb sympathisch. Ich darf jedoch zu Recht von mir behaupten, dass ich gegen Menschen aus anderen Ursprungsländern nicht mehr Vorurteile hege, als zu Menschen, die hier leben. Das liegt daran, dass ich selbst kaum negative Erlebnisse in dieser Hinsicht zu verzeichnen habe. Ich begegne grundsätzlich jedem Menschen erst einmal mit Achtung und Respekt. Weil ich denke, dass jeder Mensch lieber wertgeschätzt, als abschätzig gemustert oder ignoriert wird.

Ich gehe ja eigentlich nur von mir selbst aus.

Wie würde ich reagieren?
Wenn ich anderen Menschen begegne und man mich ignoriert, fühle ich mich natürlich nicht beachtenswert, sogar abgewertet. Spüre ich gar noch schiefe Blicke hinter meinem Rücken, verunsichert mich das sehr. Wenn ich verunsichert bin, verstecke ich mich hinter einer Maske. Ich zeige mein wahres Ich nicht mehr, wirke sogar arrogant.
Ich denke, Arroganz ist immer ein Indikator für Unsicherheit.

 

Dieser Mensch war nicht unsicher.
Als Khalid ausstieg, erklärte er, dass wir jederzeit ohne Anmeldung zu ihnen zu Besuch kommen dürften. Sie würden sich freuen.

Bei einer Entrümpelungsaktion in unserem Haus musterten wir auch unsere Kleidung einmal ordentlich aus.
Mein Mann und ich beschlossen, die fünf afghanischen Burschen zu fragen, ob sie etwas brauchen würden. Wir luden sie zum Tee ein, sie sollten sich einfach nehmen, was sie brauchen konnten.

An einem Sonntagnachmittag war es dann soweit. Wir tranken Tee, unterhielten uns, und ich war sehr erstaunt, dass sie alle schon bemerkenswert gut Deutsch sprachen. Sie erzählten liebevoll von ihrer Mama. Christine, eine pensionierte Hauptschullehrerin, kam dreimal in der Woche für jeweils zwei Stunden zu ihnen nach Hause, um sie unsere Sprache zu unterrichten. Dabei brachte sie ihnen auch unsere Kultur und hiesige Gebräuche näher.

Diese Fremden waren wirklich witzig und wissbegierig. Und eigentlich gar nicht fremd. Sie sahen zwar etwas südländisch aus, und auch in der Sprache schwang ein Dialekt mit, doch sonst schienen sie hier gut angekommen zu sein.

Natürlich kamen auch ein paar Berichte über ihre Fluchtgründe und die Umstände ihrer Flucht zur Sprache.

Ich merkte, wie ich gerne noch mehr darüber erfahren wollte. Über ihre Ansichten, ihre Religion, ihr Leben vor der Flucht, ihre Pläne für die Zukunft.

 

Eine Woche später wurden wir alle gemeinsam zu Kaffee und Kuchen eingeladen. So lernte ich auch die anderen beiden Bewohner kennen.
Ich erlebte fünf sehr unterschiedliche Menschen, die scheinbar seit eineinhalb Jahren respektvoll, gut organisiert und friedlich unter einem Dach lebten.

Auf meine Frage, wie oft sie sich streiten würden, bekam ich die Antwort, dass es kaum Streit gab. Und wenn, dann würde man darüber in Ruhe sprechen. Es klang tatsächlich authentisch. Sie hatten zu Beginn ihrer Wohngemeinschaft miteinander vereinbart, dass sie nicht über den Krieg und ihre Heimat sprechen würden. Sie wollten diese Energie außen vorlassen, sich nicht gegenseitig mit traurigen und schweren Erinnerungen konfrontieren. Sie hatten beschlossen, positiv und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

Und bei weiteren Zusammenkünften begann ich mich immer wieder zu fragen, wer diese Fremden wirklich waren. Sie bemühten sich sehr, fröhlich und positiv zu wirken, doch bei genauem Hinsehen sah man in traurige, ängstliche Augen.

Ich ahnte, dass vieles auf ihren Schultern lastete, das sie sich vielleicht von der Seele sprechen wollten.
Ein freundschaftliches offenes Ohr tat wohl jedem gut. Ich konnte sicher auch vieles über diese andere Welt im Krieg, wie auch über diese abstruse andere Religion lernen.

Ich wollte es verstehen lernen, warum junge Männer ihre Familien und Lieben hinter sich lassen konnten. Warum sie allein gekommen waren. Was sie hier vorhatten.

 

 

Und ganz unverblümt schlug ich eines Tages vor, darüber schreiben zu wollen. Ich bot ihnen an, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Und Khalid wollte sofort.

Viele Wochen saßen wir gemeinsam am Tisch. Er erzählte mir offenherzig von seinem Leben und beantwortete unzählige meiner Fragen. Fragen, die ich immer wieder stellte, sie hin und her drehte, damit ich ein ganz klares Bild bekam. Ich tauchte ein in eine Welt der Angst, des Terrors und des Krieges. In die Seele eines Menschen, der seine geliebte Familie verlassen hatte, um sie zu retten...